Kapitel 22: indirekte Rede und consecutio temporum


22.1.1 Die indirekte Rede im Deutschen

Es würde die wenigsten Deutschen erschüttern, aber dieser Satz ist eigentlich falsch.
Goethe sagte, über allen Wipfeln ist Ruh.

Die Grundregel für die Bildung der indirekten Rede im Deutschen ist so einfach wie praktisch schwer durchführbar. Die Aussage des anderen steht im Konjunktiv I.
Adorno sagt, die Kunst sei das Nichtidentische.

Die Zeit, in der der einführende Satz steht, spielt hierbei überhaupt keine Rolle.

Adorno sagt, die Kunst sei das Nichtidentische.
Adorno hat gesagt, die Kunst sei das Nichtidentische.
Adorno hatte gesagt, die Kunst sei das Nichtidentische.
Adorno wird sagen, die Kunst sei das Nichtidentische.
Adorno würde sagen, die Kunst sei das Nichtidentische.

Bedingt durch die Tatsache aber, dass das System insgesamt instabil ist, weil der Konjunktiv im Deutschen morphologisch schwierig ist, entsteht auch dann Unsicherheit, wenn es im Prinzip klar, also morphologisch unproblematisch, ist, also jedem, der Deutsch als Muttersprache hat, der Konjunktiv I des Verbes bekannt ist.

In statistisch relevantem Umfang dürfte man auch auf Sätze dieser Art stoßen.

Adorno sagt, die Kunst ist das Nichtidentische.
Adorno sagt, die Kunst wäre das Nichtidentische.


Prinzipiell ergibt sich folgendes Bild. Erste Wahl ist immer der Konjunktiv I. Der Konjunktiv I ist aber in vielen Formen mit dem Indikativ Präsens identisch.

Person Indikativ Präsens Konjunktiv I Konjunktiv II
Ich schreibe schreibe schriebe
Du schreibst schreibest schriebest
Er schreibt schreibe er schriebe
Wir schreiben schreiben wir schrieben
Ihr schreibt schreibet schriebet
Sie schreiben schreiben schrieben

Person Indikativ Präsens Konjunktiv I Konjunktiv II
Ich nehme nehme nähme
Du nimmst nehmest nähmest
Er nimmt nehme er nähme
Wir nehmen nehmen wir nähmen
Ihr nehmt nehmet nähmet
Sie nehmen nehmen nähmen

Person Indikativ Präsens Konjunktiv I Konjunktiv II
Ich bin sei wäre
Du bist seist wärst
Er ist sei er wäre
Wir sind seien wir wären
Ihr seid seid wärt
Sie sind seien wären

Person Indikativ Präsens Konjunktiv I Konjunktiv II
Ich backe backe büke
Du backst backest bükest
Er backt backe büke
Wir backen backen büken
Ihr backt backet büket
Sie backen backen büken


Die erste Tabelle zeigt uns ein Verb (schreiben), dessen Konjunktiv I teilweise mit dem Indikativ Präsens identisch ist. Die dritte Tabelle (sein) zeigt uns ein Verb, dessen Konjunktiv I in keiner (mit Ausnahme der zweiten Person Plural) mit dem Indikativ Präsens identisch ist. Die Tatsache, dass Indikativ Präsens und Konjunktiv I identisch sein können (und dies meistens auch sind) führt uns zu dieser Regel.

Regeln zur Wiedergabe der indirekten Rede im Deutschen

  1. Die Aussage des anderen wird prinzipiell im Konjunktiv I wiedergegeben.
  2. Ist der Konjunktiv I identisch mit dem Indikativ Präsens, wird der Konjunktiv II verwendet.
  3. Klingt der Konjunktiv II gestelzt oder fällt er mit dem Imperfekt zusammen oder ist der Konjunktiv II dem Sprecher schlicht unbekannt, wird eine Umschreibung mit würden verwendet.

Die wichtigste Regel (immer gültig!): Grau mein Freund ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum.

Beispiel

Sie sagt: " Die Leute backen einen Kuchen."
Erster Versuch Konjunktiv I:
Sie sagt, die Leute backen einen Kuchen. (Geht nicht da, Konjunktiv I identisch mit Präsens Indikativ.)
Zweiter Versuch Konjunktiv II:
Sie sagt, die Leute büken einen Kuchen. (Auch nicht so gut, weil gestelzt.)
Dritter Versuch Umschreibung mit würde:
Sie sagt, die Leute würden einen Kuchen backen.

Sie sagte: "Ihr verwendet zuviel Beton."
Erster Versuch Konjunktiv I:
Sie sagte, dass wir zuviel Beton verwenden (Geht nicht, da Konjunktiv I identisch mit dem Präsens Indikativ.)
Zweiter Versuch Konjunktiv II:
Sie sagt, dass wir zuviel Beton verwendeten. (Geht auch nicht, weil identisch mit Imperfekt.)
Dritter Versuch Umschreibung mit würde:
Sie sagte, dass wir zuviel Beton verwenden würden.


Wer schon einmal auf dem Bau gearbeitet hat weiß, dass die richtige Verwendung des Konjunktivs für die Kommunikation von zentraler Bedeutung ist. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem optimalen Mischungsverhältnis beim Beton und der Verwendung des Konjunktivs.



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