Grammatik Satz 122


Spanischer Sat

Temblando, retrocedí a tientas hasta la pared, decidido a dejarme morir antes que afrontar el horror de los pozos que en las tinieblas de la celda multiplicaba mi imaginación.

Deutscher Satz

Zitternd tastete ich mich zur Wand zurück, entschlossen, eher dort zu sterben, als die Schrecken des Brunnens zu ertragen, die meine Phantasie in der Finsternis der Zelle noch steigerte.

Grammatik

Beschrieben wird ein Ereignis einer Handlungskette. Hinsichtlich der Verwendung der Zeiten gibt es keinen Unterschied zwischen "unserer" Übersetzung und der Übersetzung von Julio Cortázar.

Estremeciéndome de pies a cabeza, me arrastré hasta volver a tocar la pared, resuelto a perecer allí antes que arriesgarme otra vez a los horrores de los pozos ...

Wie schon öfter erwähnt, ist es für unsere Diskussion völlig unerheblich, ob der Text von Edgar Allan Poe richtig übersetzt wurde oder nicht. Die Übersetzung von Julio Cortázar hat aber wohl einen kleinen Fehler. Der englische Orginalsatz sieht so aus.

Shaking in every limb, I groped my way back to the wall -- resolving there to perish rather than risk the terrors of the wells, of which my imagination now pictured many in various positions about the dungeon.

Dass er mit den Händen die Wand berührte, steht nicht im Orginal. Aber ... grope ... bedeutet tasten, er tastete sich zurück, was in "unserer" Übersetzung mit ...retrocedí a tientas .... wiedergegeben wird.

Kopfzerbrechen kann auch die Konstruktion ... dejarme morir ... bereiten. Prinzipiell ist diese Konstruktion natürlich unproblematisch, aber hier bereitet sie Schwierigkeiten.

No quiero dejarme arrastrar por el vértigo del tiempo. = Ich will mich nicht vom Wirbel der Zeit fortreissen lassen. Pronto volveré a dejarme caer por aquí de nuevo. = Bald werde ich mich hier wieder fallen lassen.

Wenn man aber genauer darüber nachdenkt, ist es weniger die Frage, warum es im Spanischen geht, als die Frage warum es im Deutschen nicht geht, die Probleme bereitet.

Ich lasse mich fallen.
Ich lasse mich leicht verwirren.
Ich lasse mich beleidigen.

geht. Aber

Ich lasse mich sterben

geht nicht. Im deutschen funktioniert die Konstruktion lassen + Infinitiv nur, wenn sie in eine Konstruktion zulassen + Nebensatz konvertiert werden kann.

Ich lasse mich fallen. = Ich lasse zu, dass ich falle.
Ich lasse mich leicht verwirren. = Ich lasse zu, dass ich leicht verwirrt werde.
Ich lasse mich leicht beleidigen. = Ich lasse zu, dass ich beleidigt werde.

Andersherum formuliert, es geht nur, wenn das Subjekt der Handlung zustimmt. Bei unserem Satz ist aber die Zustimmung ausgeschlossen, bzw. weil schon der Inhalt problematisch ist, bereitet es auch grammatikalisch Schwierigkeiten.

Ich lasse mich sterben. = Ich lasse zu, dass ich sterbe.

Sterben an sich ist kein Vorgang, den das Subjekt zulassen kann, da es ihn in der Regel ohne seine Zustimmung erleidet. Die Konstruktion lassen + Infinitiv suggeriert etwas, was das Vorverständnis der Wirklichkeit als unsinnig empfindet, nämlich, dass es der eigenen Zustimmung bedarf, dass man stirbt. Interessant an diesem Phänomen ist, dass es noch jenseits jeder Analyse als absurd empfunden wird. Normalerweise wirken grammatikalisch korrekte Sätze, die aber schlichter Nonsens sind, nicht absurd.

Das hochnäsige, blondgelockte Kamel, flog, belebt durch den Schwung seiner Gedanken durch das Nadelöhr.

Auch dieser Satz ist unsinnig, irritiert aber nicht. Der Satz ...Ich lasse mich sterben... allerdings irritiert, weil die Abstrusität, die jeder sofort spürt, nicht offensichtlich ist. Wie dem auch immer sei, im Spanischen kann man Sätze konstruieren, die suggerieren, dass es möglich ist, das eigene Sterben zuzulassen, was ja logischerweise impliziert, dass man auch die Möglichkeit hat, es nicht zuzulassen. Hier liegen konzeptionelle Unterschiede vor, die jenseits der Grammatik liegen. Im Deutschen muss man sich schon ziemlich bemühen, um einen Satz wie

Ich lasse mich sterben

sinnvoll zu finden. Beschrieben wird also eine Situation, bei der er die Möglichkeit hätte, das eigene Sterben zu verhindern. Von dieser Möglichkeit macht er aber nicht Gebrauch, er lässt sich sterben. Was wie ein grammatikalisches Problem aussieht, ist eigentlich die Tatsache, dass die Situation so ungewöhnlich ist, dass sie unserem Alltagsverständnis radikal widerspricht. Grammatikalisch ist der Satz korrekt.

ok: Ich lasse ihn sterben.
ok: Ich lasse dich sterben.
ok: Er lässt ihn sterben.
ok: Er lässt sich fallen.
ok: Ich lasse mich fallen.
nok: Ich lasse mich sterben.
nok: Er lässt sich sterben.

Grammatikalisch sind auch die nok Sätze korrekt. Ihre Aussagen sind aber so wenig kompatibel mit unserer Alltagserfahrung, dass wir sie als grammatikalisch falsch empfinden. Mit Sätzen, die grammatikalisch richtig sind, aber offensichtlich blödsinnig, haben wir kein Problem. Bei Sätzen allerdings, bei denen die grammatikalische Struktur unterschwellig einen Inhalt suggeriert, der jeder Alltagserfahrung widerspricht, haben wir ein Problem. Wir müssen jetzt akzeptieren, dass das Spanische hier ein anderes Konzept des Sterbens hat.





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